Alles quillt

Alles quillt  
alles quillt über.
Die Städte, die Straßen,
die Züge, die Bahnsteige,
Die Menschen, die Bedürfnisse,
die Playlisten, die ToDo-Listen,
die Einkaufswagen, die Gefängnisse,
die Ozeane, die Wüsten, die Klimaprognosen,
Die Möglichkeiten, die Wahlentscheidungen,
die Auftragsbücher zur Produktion von Stacheldraht,
die Schublade mit den Ladekabeln -
Laden und laden lassen - von wegen!
Dies ist meine Steckdose, such dir doch eine andere!
Das war schon immer meine Steckdose!
Tausend Jahre erfolgreiche Steckdosen-Geschichte!
Wir sind das Volk! Ein Volk von Ladern!
Wir laden uns gerne auf! Wir SIND geladen!
Der Ladebalken steigt hoch, höher noch als unser Magenfüllstand!
Es kommt! Es kommt uns hoch!
Wir sind angefüllt, aufgefüllt, abgefüllt über und über!

Alles quillt.
Alles quillt über.
Über den Rand, über das Maß, über alle Maßen verquollen sind die Gesichter.
Verbogen, verzerrt, verlogen.
Weggesperrt
sind Mitgefühl, Demut, Schuldbewusstsein, Sanftmut, Weisheit,
Vertrauen und Anstand.
Kenn ich nicht. Fremd. Nur fremde Worte, fremde Klänge, was soll dieses Gerede? Schon wieder fremd, alles fremd hier! Überfremdung! Überfremdung!
Ich kann nicht mehr auf die Straße gehen, überall höre ich dieses fremde Gerede!
Lass das, ich hass das! Sonst werd ich wild! Dann war's das!

Alles quillt.
Alles quillt über.
Überall.
Doch über alle Maßen brauchen Menschen die Menschen,
manche quellen über, andere sehnen sich nach Quellen.
Quellen versiegen.

Klar, es ist ein Bild.
Alles quillt.
Und es quillt über, das Bild.
Ein Wimmelbild.
Ich nehme das Bild von der Wand und stelle es umgedreht in die Ecke.

Still.
Alles still.
Ich nehme einen tiefen Atemzug.
Dann öffne ich die Tür und suche nach der nächsten Quelle.
Damit ich wieder sein kann,
und es in mir wieder
quillt.

Martin Tatzberg 2025